Ab Oktober 2019 ist es endlich so weit: Nach über zweijähriger Vorbereitungszeit öffnen in den Gemeinden Spiegelberg im Rems-Murr-Kreis und Zweiflingen im Hohenlohekreis in Baden-Württemberg die ersten beiden Standorte der „TeleMedicon“-Praxen. Das Konzept sieht vor, dass mithilfe der TeleMedicon-Praxen bereits bestehende oder drohende Versorgungslücken geschlossen werden. Die Praxen sind mit speziellen telemedizinischen Geräten ausgestattet, die es den mitwirkenden Haus- und Fachärzten erlauben, sowohl eine Video-Sprechstunde mit den Patienten als auch eine große Anzahl diagnostischer Verfahren telemedizinisch durchzuführen. Dabei werden die Praxen erstmalig in Deutschland nicht ärztlich geleitet, sondern von medizinischen Fachangestellten, die Tätigkeiten im Rahmen der ärztlichen Delegation für die teilnehmenden Ärzte ausführen. Im Hintergrund sorgt ein engagiertes Team aus Juristen, Informatikern und Ökonomen dafür, dass alle rechtlichen Vorgaben eingehalten werden und die Prozesse sicher ablaufen. „Ein Ersetzen der ärztlichen Tätigkeiten durch andere medizinische Fachberufe ist dabei allerdings nicht vorgesehen“, so Dr. med. Tobias Gantner, Gründer und Geschäftsführer der PhilonMed GmbH, die das Konzept umsetzt. Als Arzt, Jurist und Gesundheitsökonom sind ihm die gesetzlichen und politischen Grenzen des Konzepts bewusst.
Dr. Jens Steinat ist Inhaber einer hausärztlichen Praxis in Oppenweiler, einem Nachbarort, und einer der ersten Ärzte, die sich für die Teilnahme an dem Projekt entschieden haben. "Wir versorgen bereits jetzt die Nachbargemeinden mit geringer Arztdichte oder fehlenden Hausärzten mit“, erläutert der Arzt seine Motivation zur Teilnahme an dem Projekt. „Wir wollen unseren Patienten ergänzend eine zukunftsfähige und innovative Versorgung mit telemedizinischen Möglichkeiten, aber auch den jederzeit möglichen persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt bieten." Technisch ist die Telemedizin heute bereits so weit entwickelt, dass viele Untersuchungen gar keinen persönlichen Kontakt mehr benötigen. So übertragen Stethoskope bereits heute die Herz- und Lungentöne über sichere Kommunikationsleitungen an entfernte Standorte, wo der Arzt sie befunden kann.
„Die politischen und gesetzlichen Entwicklungen der vergangenen beiden Jahre machen das Projekt in dieser Form erstmalig möglich.“, so Dr. Gantner weiter. Inzwischen sind ausschließliche Fernbehandlungen nicht nur nach der ärztlichen Berufsordnung erlaubt, sondern seit einigen Monaten können diese auch über die kassenärztlichen Vereinigungen mit den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden. Zumindest solange Arzt und Patient sich bereits aus vorherigen Behandlungen persönlich kennen. Doch genau dies ist der Kern des Konzepts der sogenannten „OhneArztPraxen“: Wenn der telemedizinische Patientenkontakt nicht mehr ausreicht, ist der Arzt aufgrund der kurzen Entfernungen auch kurzfristig persönlich erreichbar. Insoweit unterscheidet sich dieses Projekt von rein telemedizinischen Ansätzen, bei denen die behandelnden Ärzte irgendwo in Deutschland oder sogar im Ausland sitzen.
„Das Projekt ist auf die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger vor Ort und der Gemeinden angewiesen“, sagt Uwe Bossert, der Spiegelberger Bürgermeister. „Wir unterstützen das Projekt daher gerne durch die Bereitstellung der Räumlichkeiten und der Geräteausstattung, denn eine ärztliche Versorgungsmöglichkeit im Ort halten wir für sehr wichtig.“ Die medizinische Diagnostik und Behandlung ist dabei nur ein erster Schritt. Das Konzept sieht vor, auch die Versorgung mit Arzneimitteln zum Beispiel über elektronische Rezepte und Botendienste sicherzustellen. Auch weitere medizinische Dienstleistungen wie ein Sanitätsfachhandel oder Physiotherapie sind denkbar.
Die Förderung des Vorhabens in Höhe von knapp 200.000 Euro erfolgt aus Mitteln des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages. Die Projektträgerschaft erfolgt über die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) im Rahmen des Bundesprogramms für Ländliche Entwicklung. Dementsprechend werden aktuell bereits mit den politischen Standesorganisationen und Ministerien in vielen Regionen Deutschlands Gespräche über weitere mögliche Standorte der TeleMedicon-Praxen geführt. Aktuell heißt es in den Medien, ländliche Regionen wären gegenüber den Städten weniger gut entwickelt. Moderne Versorgungskonzepte helfen den Regionen dabei, mindestens mit den Städten gleichzuziehen, oder hier sogar eine bessere Versorgung anzubieten.