Gesundheits-Apps – die Zukunft bleibt spannend
Was taugen Gesundheits-Apps? Was können sie leisten und wo liegen die Risiken? Antworten darauf gab eine Info-Veranstaltung mit Expertenrunde am 26. November 2019 in Stuttgart. Neben einer aktuellen Bestandsaufnahme wurde aus dem Nutzen-Blickwinkel diskutiert, wo die Reise der digitalen Applikationen hingeht.
Prof. Dr. Mark Dominik Alscher, Vorstandsvorsitzender des Vereins DG-BW Digitale Gesundheit Baden-Württemberg e. V. begrüßte die Gäste und moderierte die Veranstaltung, die der Verein in Kooperation mit der Koordinierungsstelle Telemedizin Baden-Württemberg (KTBW) durchführte. Der Titel war Programm: „Gesundheits-Apps – Relevanz für die Behandlung?“. Mit einem Impuls-Vortrag führte Dr. Ursula Kramer, Gründerin von HealthOn, einer Qualitätsplattform für Gesundheits-Apps, ins Thema ein. Grundsätzlich könne man die Apps zwei Welten zuordnen: einmal die Apps zur Therapieunterstützung mit medizinischer Zweckbestimmung und Apps, die mehr oder weniger in den Life-Style-Kontext einzuordnen seien – mit fließenden Grenzen. Wobei mit Stand Juli 2019 erst 23 deutsche Apps als Medizinprodukt zertifiziert sind. Kramer betonte, dass Apps keine Einbahnstraßen-Kommunikation sind. Es werden nicht nur Daten eingegeben, sondern eben auch empfangen. Das böte zum Beispiel die Möglichkeit, mit Methoden des maschinellen Lernens zukünftig individualisierte Unterstützung zur Gesundheitsversorgung zu liefern. Und mit Apps könne das soziale Unterstützernetzwerk aus Familie und Freunden bis zur Pflege in die Versorgung mit eingebunden werden. Kramer äußerte auch die Hoffnung, mithilfe der Apps bessere Früherkennungskonzepte zu entwickeln.
Digitaler Schweinehund muss überwunden werden
Kramer nannte auch die Hindernisse dabei, Gesundheits-Apps zu einem wesentlichen Standbein der Gesundheitsversorgung zu machen. Eine Hürde ist, dass nicht jeder diese Apps nutzen kann. Sei es, weil Patienten aufgrund ihrer Erkrankung dazu nicht in der Lage sind, sei es, weil laut Kramer immer noch jeder fünfte Mensch in Deutschland „Nonliner“ ist, also keinen Zugang zum Internet hat. Hinzu kommt, dass Download nicht mit Nutzung gleichzusetzen ist. „Gesundheits-Apps werden durchschnittlich nach acht Tagen wieder gelöscht“, weiß Kramer. Sie ist dennoch davon überzeugt, dass sich – gerade durch die vielen digitalen Interventionen in Form von Ernährungs- und Sportmedizin-Apps – das Gesundheitswesen verändern wird. Besonders interessant sind solche Apps Kramer zufolge auch, wenn sie einen Zugang zu Coachings mit Menschen aus Fleisch und Blut öffnen. Voraussetzung sei generell, dass der „digitale Schweinehund“ überwunden würde, sprich dass die App es schafft, dass der Anwender sie tatsächlich dauerhaft nutzt.
Nach ihrem Vortrag ging es direkt ‚in medias res’ für die Expertenrunde. Auf dem Podium traf Kramer zusammen mit Hans-Günter Meyer, Patientenvertreter, Winfried Plötze, Landesgeschäftsführer der BARMER Landesvertretung Baden-Württemberg, und Dr. Daniel Wagner, Sportmediziner und Orthopäde sowie Mitgründer und Geschäftsführer der Mawendo GmbH. Alscher gab zunächst die Frage nach besonderen Chancen durch solche Applikationen in die Runde. Plötze sieht große Möglichkeiten, mit zertifizierten Medizinprodukte-Apps Engpässe in der Versorgung zu verbessern, und betonte zugleich, dass sie die Leistungserbringer nicht ersetzen, sondern unterstützen sollen. Meyer bestätigte die Relevanz von Apps aus seiner Sicht als Patientenvertreter und zugleich aus eigener Erfahrung als Bluthochdruckpatient und App-Nutzer. Wagner hat nach eigenem Bekunden aus der Not heraus vor sieben Jahren die Mawendo GmbH mitgegründet. Das Unternehmen bietet digitale Trainingsprogramme für Orthopädie-Patienten an. Die Gründer sahen ein großes Manko bei „normalen“ Patienten, die nicht wie Spitzensportler engmaschig betreut werden, leitliniengerechte Therapiepläne umzusetzen. Der große Vorteil von Apps sei, sie überall und immer anwenden zu können, was auch dem sehr unterschiedlichen Berufsalltag der Patienten entspräche und durch die Zugänglichkeit für jedermann auch einer Zweiklassenmedizin entgegenwirke.
Nach so vielen positiven Statements fragte Alscher nach den Risiken. „Es gibt Apps, die sehr viele Daten erheben und nicht mal eine Datenschutzerklärung haben“, sagte Kramer. Auf der anderen Seite müsse man sich bewusst machen, dass es eine hundertprozentige Sicherheit nicht gebe, auch nicht, wenn die App als Medizinprodukt zertifiziert sei. Falschinformationen und schlechte Handlungsempfehlungen seien weitere Risiken. Auch das erwähnte Ausgrenzen von Zielgruppen gehöre zu den Risiken. Digitale Gesundheitskompetenz zu vermitteln, sei eine wichtige Aufgabe, hakte Meyer ein und nannte als Beispiel die Aktivitäten des Hochschulforums Digitalisierung, das genau diese vermitteln wolle. Er engagiert sich in diesem Forum dafür, entsprechende Education-Apps aufzubauen. Plötze sieht vor allem zwei Risiken: „Einmal, dass es uns nicht gelingt, die Patienten in der breiten Masse zu überzeugen, dass es zur Verbesserung ihrer Gesundheit führt“. Das zweite Risiko sei, dass das Allmachtsvertrauen in die Digitalisierung überhandnehme. KI sei zwar faszinierend, müsse dennoch immer als Add-on gesehen werden.
Der Mensch steht im Mittelpunkt, nicht die Technik
Wagner führte als wichtiges Argument für Apps an, dass die Durchführung von klinischen Studien mit ihrer Hilfe verbessert und erleichtert werden könne. Schon allein, weil dadurch erheblich mehr Daten erhoben werden können. Mehrwert für die klinische Versorgung sieht Plötze auch in Erinnerungs- und Servicefunktionen, etwa für Impftermine. Und er zeigte sich zuversichtlich, dass die gesundheitliche Versorgung gerade auf dem Land mithilfe der Digitalisierung qualitativ und quantitativ verbessert werden könne. Angesichts des sich verschärfenden Mangels an Pflegekräften, Fachkräften und Ärzten im ländlichen Raum gelten Angebote wie Videotelefonie und Apps als wichtige Zukunftsthemen.
Aus dem Publikum kam die Frage nach der Lage angesichts der neuen gesetzlichen Richtlinien. Damit wurde ein Thema mit gehörigem Zündstoff angesprochen. Mit dem DVG (Digitale-Versorgung-Gesetz) kommen zwar 2020 die elektronische Patientenakte sowie das E-Rezept, und mit weiteren Bausteinen wird die digitale Infrastruktur zur Gesundheitsversorgung verbessert. Aber am 26. Mai 2020 tritt auch die Medical Device Regulation mit ihren verschärften Anforderungen an die Zertifizierung von Medizinprodukten endgültig in Kraft. Und das betrifft auch Apps, die als Medizinprodukt zertifiziert sind.
Kramer sieht die Gefahr, dass die MDR das DVG aushebelt. „Die meisten Apps, die heute als Medizinprodukt zertifiziert sind, sind nach Risikoklasse 1 zertifiziert“, sagt Kramer, und dass es diese Risikoklasse mit der neuen MDR in der Form nicht mehr geben wird. Wenn diese Produkte nun auf Risikogruppe 2b hochgestuft würden, könnten sie nicht mehr den „Fast Track“ durchlaufen. „Nach DVG ist es möglich, dass eine Applikation, die entweder Risikoklasse 1 oder 2a ist, nach dem Fast Track in Verkehr kommt. Das heißt, das BfArM prüft die App. Sie kommt dann in ein Verzeichnis, darf verordnet werden und wird erstattet“, erklärt Kramer. Wenn es jedoch MDR-bedingt gar keine oder nur noch wenige Medizinprodukte-Apps der Klasse 2a gibt, hat sich dieser Fast Track nach DVG erledigt. „MDR und DVG passen nicht zueinander. Wir brauchen eine Verlängerung der Fristen, sonst ist das DVG ein zahnloser Tiger“, machte Kramer klar.
Generell erwarten die Podiumsteilnehmer, dass sich die Dynamik in Sachen Gesundheits-Apps in den nächsten fünf Jahren noch verstärken wird. Einig waren sich die Teilnehmer auch darin, dass die Schnittstellen zwischen Arzt und Patient bei Apps noch weiter ausgestaltet werden müssen. Wie tauscht man Daten aus, wer klärt auf – das seien Fragen, die noch geklärt werden müssten. „Es bleibt spannend. Der Mensch ist derjenige, der das treibt“, brachte Alscher es auf den Punkt.